Harro ist 16 Jahre alt und heißt mit Nachnamen Jäger. Er wohnt am Ende der Adolf-Hitler-Straße im Süden Leipzigs, direkt am Connewitzer Kreuz. Im Jahre 1933 wurde die damalige Südstraße auf diesen perfiden Namen umgetauft. Erst im August 1945 bekam sie den Namen verliehen, der bis heute auf den Schildern prangt: Karl-Liebknecht-Straße. Für den Überblick ist im Buchumschlag eine altertümliche Karte des Leipziger Südens abgedruckt, in welcher sich ortskundige über die alten geografischen Gepflogenheiten informieren können. Dadurch lassen sich die Orte auch mit der Gegenwart in Verbindung bringen.
„Bis die Sterne zittern“ versetzt uns in das Jahr 1936 und auch die Geschichte von Harro beginnt auf der Adolf-Hitler-Straße. Bei einem Vorfall mit Anhängern der HJ lernt er seinen etwa gleichaltrigen Nachbar Heinrich kennen. Angezogen von der Art und Weise, sich nicht in die Linie der NS-Hörigen einzuordnen, freundet er sich bald mit ihm an. Er landet in der Connewitzer Clique von auffällig gekleideten Jugendlichen, die ein gehöriges Problem mit dem politischen System samt Unterstützer:innern und Mitläufer:innen haben.
Endlich kann Harro seinen alltäglichen Unmut durch den Austausch mit anderen besser einordnen und auch durch die Gemeinschaft ausdrücken. Er fühlt sich verstanden und zum ersten Mal zugehörig. Sich nicht auf die Staatslinie einzulassen und darauf einen Pfiff zu geben; sich untypisch anzuziehen und das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, kommt zur Zeit des Dritten Reiches einer Politisierung gleich.
Diese birgt auch Probleme, beispielsweise in seinem Elternhaus. Mutter und Vater behelligen und zwingen Harro zwar nicht direkt, aber die Kluft zwischen Eltern und Kind wächst spürbar. Das ist aber noch sein geringstes Problem. Natürlich gerät die Bande ins Visier von teils ekligen Gestalten der Hitlerjugend, sowie von den skrupellosen Vollstreckungsorganen des Staates. Das sind große Steine im Weg eines Sechzehnjährigen.
Als Teenager kreisen im Kopf unserer abenteuerlustigen Seele aber auch Gedanken der Zuneigung und Sehnsucht, und so lässt sich Harro den Kopf verdrehen und findet sich in seiner ersten Crush-Situation mit vielleicht Aussicht auf die große Liebe wieder. Wie viele Bücher von Jugenderzählungen, kommen hier also die üblichen Konflikte in Form von waghalsigen Aktionen, Kompliz:innenschaft, ersten Liebeserfahrungen und Fragen nach dem tieferen Sinn des Lebens auf. Das Setting wirbelt dabei frischen Wind auf die Straßen der Leipziger Vergangenheit. Besonders gefallen haben mir die detailierten Ortsbeschreibungen und der reale historische Hintergrund.
Was die Sprache angeht, lassen sich einge angestaubte Wortperlen herauslesen, welche die Leute damals verwendeten. Allgemein frage ich mich, inwiefern es möglich ist einen umgangssprachlichen Dialog von 1936 heute zu rekonstruieren. Aber das ist eher historisches Interesse und kein „Hoffentlich hat der Johannes Herwig das alles zeitreisegerecht runtergetippt“. Die Gespräche wirken locker flockig und lebendig. Die Charaktere sind glaubhaft und authentisch gestaltet und ihre Beziehungen nachvollziehbar ineinandergelegt, genauso wie ihre Hintergründe und Aktionen.
Johannes Herwig ist selbst in Connewitz aufgewachsen und wählte das zeitliche Setting, um an die sogennanten „Meuten“ zu erinnen. Diese bestanden Mitte bis Ende der 1930er Jahre aus hauptsächlich Jugendlichen und leisteten aktiven Widerstand gegen die Staatsmacht. Ihnen kam die Rolle als Gegenpol zur Hitlerjugend zu – im Gegensatz zu dieser forderten sie ein bunteres und lockeres Leben ohne den harten Zwang und die stählerne bis lächerliche Autorität. Auch wenn sie scheinbar kleine Fünkchen darstellten, waren die Meuten in der Breite eine wichtige Bewegung und ein dicker Mittelfinger im Gesicht der Hakenkreuzfratzen. In Leipzig wurden dabei mehr Anhänger:innen als in anderen Teilen des Reiches ausgemacht; zwischen 1937 und 1939 sind mehr als 1500 Jugendliche aktenkundig geworden. Sicherlich waren es noch wesentlich mehr.
Seit 1938 wurden diese vom Staat hart verfolgt und unter anderem ins Jugenschulungslager abkommandiert oder gar inhaftiert. Schließlich sind sie in der Geschichtsschreibung mehr oder weniger untergegangen, da als ostdeutsches Pendant zu Edelweißpiraten und der Swing-Jugend ebenfalls die DDR eine Glorifizierung von „rowdyhaften Jugendlichen“ als Widerstandskämpfer:innen doch eher ablehnte und bei den üblichen Ikonen verweilte, als diese breite Gruppierung zu erwähnen.
Das Buch liest sich sehr schnell durch und kommt äußerst kurzweilig daher. Es darf sich vor allem als Jugendliteratur empfehlen, um die politische Historie Deutschlands in einer fesselnden Geschichte erlebbar zu machen. Aber auch allen anderen sei dieses Schriftgut wärmstens ans Herz gelegt.
JOHANNES HERWIG • ROMAN • 2017 • 253 Seiten • Gerstenberg Verlag